Warum wir dauernd neue David Garretts brauchen
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Von Manuel Brug
Feuilletonmitarbeiter
Er ist der Geiger der Stunde: David Garrett gehört derzeit zu den populärsten Klassik-Künstlern überhaupt. Neu ist das Phänomen allerdings nicht. Jede Generation und Epoche braucht offenbar ihren massenkompatiblen Starviolinisten, spätestens seit Niccolò Paganini.
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Sie sind nicht jung, sie sind nicht alt, nicht reich und nicht Hartz IV, nicht in und nicht out. Sie sind ganz normaler Durchschnitt, sie sind Deutschland. Wenn man diese 2000 Menschen aus der Berliner Philharmonie führen, vor einem neutralen Hintergrund versammeln und fotografieren würde, keiner könnte sagen, was sie an diesem Abend verbindet: den Einsatz einiger Euro nämlich, um ein Klassik-Konzert mit David Garrett zu hören.
Der gibt immer noch Rätsel auf. Da taucht 1995 bei der Deutschen Grammophon ein 14-jähriger fönfrisierter Geigenknabe auf, immerhin betreut von Violinlehrgrößen wie Zakhar Bron und Ida Haendel, der mit Claudio Abbado Mozartkonzerte eingespielt hat. Sein Ton ist dünn, seine Interpretation wenig charismatisch.
Nach zwei weiteren Kammermusikplatten ist der verkrampft wirkende, offenbar von seinen Eltern zum Geigerglück gezwungene Junge wieder weg vom Klassikmarktfenster. So grausam war bereits damals das Geschäft.
Einige Jahre später startet der nunmehr postpubertäre Jüngling bei der gleichen Firma einen zweiten Versuch mit romantischen Konzerten. Die Fönfrisur ist noch da, auch wenn er auf dem Cover etwas mehr Haut zeigt und schwere Adoleszenzprobleme beichtet. Immerhin hat sich zwischenzeitlich sogar Itzhak Perlman an der New Yorker Juilliard School seiner angenommen. Das Comeback wird ein Flop. Der Klassikmarkt ist mit wirklich guten Violinisten gesättigt, an der Saitenfront geben zudem die Geigen-Girlies den Marketing-Ton an.
Wieder verschwindet David Garrett in der Versenkung, um 2006, inzwischen von den ehrgeizigen Eltern abgenabelt, mit einer selbst produzierten, via England zunächst widerwillig in Deutschland herausgebrachten, rockig aufgetunten Lollipop-CD und neuem Look plötzlich die Charts zu stürmen.
Was beweist: Jede Generation und Epoche braucht offenbar ihren massenkompatiblen Starviolinisten, spätestens seit Niccolò Paganini. Der hatte im 19. Jahrhundert bereits das Pop-Image weg, man nannte ihn den "Teufelsgeiger", Legenden rankten sich schnell um seine Finger- wie Liebesfähigkeit. Virtuosität als Potenzprotzerei.
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Eine ganze Armada von griffflinken, Funken fliegen lassenden Saitentänzern folgte ihm bis ins frühe 20. Jahrhundert - von Joseph Joachim über Henri Vieuxtemps, Henryk Wieniawski, Fritz Kreisler, Eugène Ysaye, Pablo de Sarasate bis Jenö Hubay.
Sie hatten alle gemeinsam, dass sie unverschämt viel Geld für irrwitzige Kunststücke auf der immer schon als erotisch angesehenen Geige verdienten, dass sich auch um ihr Privatleben die Mythen rankten und dass sie in einem längst noch nicht so öde genormten Konzertmarkt, der ja damals auch das Popbusiness war, gehörig über die Programmstränge schlugen.
Zu ihnen ging der kunstinteressierte Bürger nicht, um sich intellektuell zu versenken, sondern um sich zu unterhalten. Dieses Bedürfnis befriedigten sie zudem mit eigenen, meistenteils heute noch gespielten, mehr oder weniger avantgardistischen Kompositionen die als zirzensische Pyrotechnikkunststücke die eigenen Fähigkeiten ins rechte Podiumslicht rückten. Ein David Garrett hingegen arrangiert höchstens manierlich, und dann klingt AC/DC wie Konfitüre.
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Selbst als durch das Aufkommen des Grammophons wie des Radios die Unterhaltungsmusik sich stetig mehr vom Klassikgeschäft entfernte, war der charismatische Geiger ein Muss. Unter den Heerscharen der fiedelnden Orchesterleiter im Berlin der Zwanzigerjahre galt etwa Barnabás von Geczy stets als der "Paganini des 5-Uhr-Tees".
In den Fünfziger- bis Siebzigerjahren nahm in den deutschen Radio- und TV-Shows dann der ondulierte "Zaubergeiger" Helmut Zacharias seine Stelle ein. Der konnte swingen, spielte aber auch mit Ferenc Fricsay bei der Deutschen Grammophon Klassik ein. Zacharias war der Geiger fürs Volk, die elitären Virtuosen spielten längst in anderen, publikumsmäßig überschaubareren Sphären.
Über diese Wahrnehmungsgrenze sprang höchstens noch das einstige Wunderkind Yehudi Menuhin, der mit mildem Versöhnungscharme und weltumspannendem Humanitätsengagement mehr punktete als mit seinen schwindenden Geigenfähigkeiten.
Während die Mitte der Neunzigerjahre auftauchende asiatische Geigennymphe Vanessa-Mae weniger durch die flinken Finger als ihren Wet-T-Shirt-Look und eine Elektrovioline eine Zeit lang erregte, konnte sich vorher schon und eigentlich bis heute Nigel Kennedy etablieren.
Der Menuhin-Schüler war zunächst brav frisiert und spielte manierlich Klassik in den oberen Etagen des Betriebs. Bis er plötzlich auf punkig-britischen Prolllook setzte, die kuschelige Romantik aufraute - und mit Vivaldi durch die Chartsdecke ging.
Kennedy hatte Auf und Abs, begann Popsongs, Jazz, Klezmer und Eigenkompositionen in sein schräges, aber liebenswertes Musikuniversum einzubeziehen. Doch auch wenn er bisweilen auf seiner "Kylie" gerufenen Guaneri danebengreift, weil ihm die Spielergebnisse seines Football-Clubs Aston Villa wichtiger sind: Der mittlerweile 53-Jährige ist hochgradig authentisch und zudem ein begnadeter Kommunikator.
Sein Publikum allerdings wird auch durch ihn nicht klassikaffin. Auf den übrigen, im Styling nach wie vor verschnarcht dahindümpelnden Betrieb hatte der inzwischen vornamenlose Kennedy weniger Auswirkungen als zunächst gedacht oder befürchtet.
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Und nun folgt also - nach und neben André Rieu (61), dem schmalzlockigen Saitenschmeichler mit weiblichem Staniolkleiderorchester für die Volksmusik-Fraktion - mit David Garrett der nächste Geigenpopstar für die neue Mitte. Für die, denen Pop und Rock zu aggressiv, Klassik aber zu anstrengend ist. Es gibt viele davon.
Und so füllt nun ein Schwiegermuttertyp mit Dreitagebart, blondiertem Zopf, bisweilen offenem Hemd, Hängehosen und Hütchen die Arenen wie Konzertsäle: als Nachfolger nicht ausrottbarer Archetypen wie des fiedelnden Rattenfängers, des Zigeuners, des geigenden Tods und Teufels, der die Menschen in Veitstänze und Untergangsreigen treibt.
Das Sympathische an dem nun auch schon bald 30-Jährigen, von einer Fußgängerzonen-Bekleidungsfirma Gesponserten, ist seine Liebe zur Klassik. Während er dank eines auf YouTube dahingeschrabbeltem "Hummelflug" im Guinness-Busch als "schnellster Geiger der Welt" zertifiziert ist und bei den TV-Raabs als "schönster Geiger" schäkern muss, begnügt er sich nicht, für ein paar lukrative Crossover-Karrierejahre mit Kuschelrock-Tunes sein Ding zu drehen.
Nein, er will das Mendelssohn-Konzert und Zugabenstücke spielen, im Dämmerlicht, vom Barhocker aus. Zwischen lauter "wunderschönen" Nummern reißt er nette Witze, sein wohl wenig Klassik-geübtes Publikum nimmt er nicht wirklich an die Hand. Sein Spiel ist so zart, vibratosatt und fantasielos brav, dass man es unter Artenschutz stellen müsste. Der Konzertmeister der wackeren Staatskapelle Weimar neben ihm würde es mindestens genauso gut können.
Auf David Garretts ungefährlich weichem Ton kann sich die Mehrheit entspannen. Kein Wunder, dass ihn Angela Merkel beim CDU-Festakt für Sechzig Jahre Bundesrepublik das Deutschlandlied hat geigen lassen. Im nächsten Jahr soll David Garrett - auf Wunsch von Horst Köhler - als Solist beim Benefizkonzert des Bundespräsidenten spielen. Und jetzt bekommt er die goldene "Hörzu"-Kamera für "Beste Musik International".